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NO PRISON
(manifesto)


1. Es kann nicht länger hingenommen werden, dass die Strafjustiz praktisch nur als eine Art "Austeiler von Leid" fungiert. Selbst dem Urheber eines Massakers Schmerz zuzufügen, ist nicht von Nutzen für die Verbesserung der Gesellschaft, denn zum Blut der Opfer würde nur noch mehr Leid zugefügt, das des verurteilten Mehrfachmörders. Ob es deshalb richtig ist, auf Böses mit Bösem zu reagieren, scheint heutzutage eine sinnlose Frage zu sein angesichts der Tatsache, dass die "retributive Strafe" (also die vergeltende Gerechtigkeit der sich aus einer Gefängnisstrafe ergebenden Leiden) auf die Idee der Strafwürdigkeit zurückführt d.h. jemandem Böses mit Bösem zu vergelten, was in einem laizistischen Staat nicht annehmbar ist.

2. Trotz der blutrünstigen Kultur, die uns seit Jahrtausenden umgibt, reagieren wir allesamt aus Angst, Opfer zu werden, indem wir Bestrafung und Leiden für diejenigen fordern, die wir als gefährlich betrachten, weil sie gegen das Gesetz verstossen haben. Die Auffassung, das Böse müsse mit den gleichen Mitteln bekämpft werden, führt dazu, dass sie gar nicht mehr zur Diskussion gestellt wird, geradeso als wäre diese Betrachtungsweise die einzig gültige. Dagegen sollten wir uns besser unvoreingenommen die Frage stellen, was wir tun könnten, um die Kriminalität einzudämmen, denn sie ist der Ursprung allen Leidens, allen Schmerzes, allen Übels.

3. In unserer modernen Gesellschaft ist die Reaktion auf ein Delikt politisch nur dann legitim, wenn sie nützlich ist, wenn sie der Kriminalität entgegenwirkt und/oder die Rückfälligkeit begrenzen kann, wenn die Gegenmassnahmen zum Verbrechen wirksam dazu beitragen können, künftigen Vergehen vorzubeugen.

4. Mit dem Anbruch des modernen Zeitalters hat die westliche Gesellschaft begriffen, dass die Freiheitsstrafe (das Gefängnis) den Vorteil hat, sowohl das Leid der strafrechtlichen Reaktion zu mildern, potenzielle Kriminelle durch Abschreckung von neuen Verbrechen abzuhalten, wie auch die Verurteilten durch Erziehung von Rückfälligkeit zu bewahren. Das Gefängnis wurde als glänzende Erfindung neuzeitlichen Fortschritts begrüsst, einer endlich demokratischen Strafe, da sie ein allen Menschen eigenes und in gleicher Weise geschätztes Gut betraf: die persönliche Freiheit; weil die Strafe mit grosser Genauigkeit messbar von einer Sekunde bis zur Ewigkeit war; eine Strafe auch wirtschaftlich vertretbar, weil ausgerichtet auf eine soziale Wiedereingliederung des Verurteilten.

5. Die Ziele der Vorbeugung haben sich nie geändert. Sie waren und sind auch nach zwei Jahrhunderten gültig und wert, beharrlich fortgeführt zu werden. Dagegen ist die Strafausführung in unlösbare Probleme ausgeartet, was vor allem für das Gefängnis gilt. Man braucht nicht viel herumzureden: das Scheitern der Institution Gefängnis ist seit langem und überall bekannt. Bei ihrer Einführung überzeugte die Gefängnisstrafe vor allem durch ihre angeblich vorbeugende Wirksamkeit. Mit der Zeit hat sich jedoch ohne den geringsten Zweifel gezeigt, dass wir uns getäuscht haben, denn das Gefängnis hat in allen vorbeugenden Absichten der Strafe kläglich versagt.

6. Die Gründe dieses Scheiterns sind all denen klar, die die Wahrheit ohne ideologische Vorbehalte erkennen wollen. Das Gefängnis verrät nicht nur seine vorbeugende Aufgabe, d.h. es verschafft den Bürgern nicht nur nicht die Sicherheit vor der Kriminalität, sondern es verstösst auch in seiner operativen Durchführung ständig gegen die Grundrechte und die menschliche Würde der Gefangenen und deren Familien.

7. Der Anstieg der Inhaftiertenzahlen beweist, dass die Furcht vor der Bestrafung kein geeignetes Argument ist, um die Anzahl der Straftaten zu verringern. Aus vielerlei Gründen wird das Schreckensgespenst Gefängnis nie als Hemmnis gegen von der Norm abweichende Verhaltensweisen dienen können, genauso wie die barbarischen Strafen von einst es auch nicht konnten. Menschliches Handeln ist nicht immer rational, da die Strafe, die einer Straftat folgen sollte nur eine Möglichkeit, keinesfalls aber eine Gewissheit darstellt.

8. Die in die Legalität zurückgeführten Häftlinge sind überall verhältnismässig wenige und sie sind es eher "trotz" als "dank" des Gefängnisaufenthalts. Die Rückfallraten liegen in den meisten Ländern bei über 70 %. Die überwiegende Mehrheit der heutigen Häftlinge sitzt nicht zum ersten Mal ein, und es wird statistisch auch nicht das letzte Mal sein. In dieser Hinsicht macht kein Land der Erde eine Ausnahme. Auch hierüber bestehen weltweit zahlreiche wissenschaftliche Studien, die nicht nur beschreiben, sondern auch erklären, warum das Gefängnis, sei es auch das beste der Welt, nie mit der Reintegration der Häftlinge mittels der Leiden durch den Entzug der persönlichen Freiheit, Erfolg haben wird. Die inzwischen zweihundertjährige Erfahrung der Folgen eines Gefängnisaufenthalts lehrt uns im Gegenteil, dass die Häftlinge dadurch eher zu mehr Delinquenz und Gewalt erzogen werden.

9. Das Gefängnis, wo immer es auch sein mag, verstösst gegen die Grundrechte und gefährdet ernsthaft die Menschenwürde der Gefangenen. Natürlich sind nicht alle Gefängnisse in der Beachtung der Rechte gleich, und es ist auch gerecht anzuerkennen, dass es bessere und schlechtere Gefängnissysteme gibt. Es gibt aber in der Geschichte kein Beispiel eines Gefängnisses, welches in der Lage gewesen wäre, das Leid der Gefangenen nur auf das zu beschränken, welches sich aus dem Verlust der persönlichen Freiheit ergibt. Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs mittels der Gefängnisstrafe und des sich daraus ergebenden Leids, hat notgedrungen zur Folge, dass auch andere fundamentale Rechte der Gefangenen systematisch missachtet werden: von der persönlichen Sphäre und der körperlichen Unversehrtheit im Gefängnisalltag, von der Emotionalität zur Gesundheit, von der Arbeit bis zur Weiterbildung, usw. Das Gefängnis erscheint uns immer mehr als eine "prämoderne" Strafe, als eine eher körperliche als seelische Züchtigung.

10. Der strafrechtliche Reformismus kann sich in der Gegenwart nur noch mit einer Strategie der Schadensbegrenzung rechtfertigen. Man könnte, wenn man wollte, die Anzahl der Haftstrafen verringern. Man könnte ebenso, wenn man nur wollte, die Haftbedingungen lindern. Aber, gestehen wir es uns ein, das hätte gleichermassen auch für die körperlichen Strafen und die Folter in der Vergangenheit gelten können. Wenn man jedoch in dieser Weise vorgeht, so kann das Scheitern der Gefängnisse nicht in einen Erfolg umgewandelt werden. Auch das bestgeführte Gefängnis ist von seiner Substanz her, seiner Daseinsberechtigung, nicht hinnehmbar. Die Antwort auf eine Straftat muss respektvoll gegenüber der menschlichen Würde sein mit dem Ziel der sozialen Wiedereingliederung, wie dies in vielen Verfassungen moderner Staaten verankert ist, darunter auch der italienischen von 1947. Doch selbst ein reformiertes Gefängnis kann keine zufriedenstellende Antwort auf eine Straftat sein, weil es nicht für die soziale Reintegration eines Täters eingerichtet ist und weil es im Grunde nie die menschliche Würde eines Verurteilten respektieren kann.

11. Über lange Zeit hinweg und auch in fortschrittlichen Kreisen wurde die Hoffnung gehegt, das Gefängnis könne sich in eine Gelegenheit pädagogischer Betreuung und Hilfe für mit dem Gesetz in Konflikt geratener Personen wandeln, die in Mehrheit einer Welt der Schwachen und Ausgegrenzten angehören. Das war eine vertretbare Hoffnung, die auf der Erkenntnis beruhte, dass die Gefängnisstrafe vor allem eine Frage der Klassenzugehörigkeit war. Es ist erwiesen, dass das Gefängnis von Anfang an ein Platz zum zwangsweisen "Ruhestellen" (einer Art Wegschliessen) der Armen war, wie es auch wahr ist, dass man im Gefängnis vor allem landet, weil man arm ist.
Natürlich ist die Gesellschaft generell mit der Hilfe für die Armen einverstanden. Dies gilt ebenfalls für die Politik der sozialen Eingliederung von Randgruppen. Diese Bereitschaft bedeutet aber nicht, dass wir uns damit zufrieden geben sollten, dass sich die Inhaftierten nur über die Leiden eines Gefängnisaufenthalts freikaufen können. Solange wir die Idee des Bestrafens und Leidens gutheissen, bleiben wir auch in der "Galgenkultur" des absichtlichen Zufügens von Schmerz verwurzelt und in der Überzeugung, Schmerz sei das einzige Mittel zur Sühne der Schuld. Hier liegt das unlösbare Paradox jeder Strafreform.

12. Sich zu engagieren und den Willen zur Abschaffung des Gefängnisses zu haben, ist heute so unrealistisch wie in der Vergangenheit der Wille zur Abschaffung von Folter und der Todesstrafe. Die Sachlage ist gar nicht so verschieden, denn den wenigen, die damals Partei dagegen ergriffen, schlug die Skepsis der Mehrheit entgegen, ja der Vorwurf unverantwortlicher Naivität. Und doch hat die Geschichte diesen "Naivlingen" Recht gegeben, denn unsere heutige Gesellschaft ohne Todesstrafe ist sicherer als die voller Galgen von einst. Eine Strafjustiz ohne Folter garantiert die Ermittlung der Wahrheit besser als das Erzwingen von Geständnissen unter Qualen.

13. Sich befreien von der Notwendigkeit des Gefängnisses, weil unnütz und grausam, heisst mitnichten, auf den Schutz der Sicherheit vor der Kriminalität als Gemeingut zu verzichten. Der blosse Verzicht auf das Gefängnis erhöht vielmehr die Sicherheit vor der kriminellen Gefahr, da es selbst einen "kriminogenen", also einen die Kriminalität stimulierenden Faktor darstellt. Eine Gesellschaft ohne Gefängnis ist sicherer, genauso wie eine Gesellschaft ohne Todesstrafe sicherer ist.
Darüberhinaus würde die Befreiung von der Notwendigkeit der Gefängnisse noch etwas viel wichtigeres beinhalten als die blosse Verringerung unserer Sicherheitsängste, nämlich die Befreiung von der Gewohnheit, die Armen als Sündenböcke der Gesellschaft hinzustellen, deren Grundidee auf die Ungleichheit der Menschen ausgerichtet ist. Wie könnte es anders sein, nachdem die Gefängnisse dieser Welt von 90 % Armen bevölkert werden. Damit wollen wir aber nicht andeuten, dass besonders die Armen zur Delinquenz neigen. Die besten wissenschaftlichen Studien geben ein ganz anderes Bild, nämlich dass die kriminelle Gefährlichkeit etwa gleichmässig auf alle Gesellschaftsschichten verteilt ist. Bestraft und im Gefängnis aber landen vor allem diejenigen, die vom Justizsystem weniger verschont werden, die wirtschaftlich, bildungsmässig und sozial die Schwächeren sind. Gestehen wir es uns ein: es ist diese selbstverständliche Praxis der "sozialen Vertikalität", der unterschiedlichen Strafbemessung innerhalb der Sozialstruktur, die grösstmögliche Differenzierung zum Ziel hat; es ist dieses Unrecht, das immer unerträglicher wird.

14. Um Häftlinge im Sinne der Legalität und zur Einhaltung der geltenden Regeln zu erziehen, bedarf es ebenfalls, dass die Gesetze diese Menschen respektieren. Diese pädagogische Offensichtlichkeit sollte Grund genug sein, das ganze Strafsystem umzustellen, denn nie wären wir so einfältig und anmassend anzunehmen, durch Ausübung und Darstellung von Schmerz die Verurteilten zum Einhalten der Gesellschaftsregeln zu erziehen. Und doch ist es so: alles was mit dem Justizsystem und folglich mit Bestrafung zu tun hat, ist durchdacht, bis ins Detail definiert, wird umgesetzt und begründet, um Schmerz zu bereiten und darzustellen. Nochmals: die Gefängnisstrafe bedeutet absichtlich zugefügtes Leid. Sie ist nicht ein Irrtum oder ein Nebeneffekt, der nicht immer vermeidbar ist in einer anderweitig positiven Aktion.
Wenn man die legitime Verteidigung anführt, um das System der gesetzlichen Strafen zu begründen, so ist dies ein erheblicher Trugschluss, denn dazu muss die Bedrohung meinerseits oder anderer und die Reaktion darauf gleichzeitig stattfinden. Wenn jedoch der Staat einen Schuldigen bestraft, so ist die Bedrohung längst vorbei. Es wird also bestraft, nicht um sich gegen eine drohende Gefahr zu wehren (denn dafür ist es zu spät), sondern allein um den Tätern Schmerz zuzufügen. Aber warum dieser anhaltende Sadismus? Er ist begründet im Fortbestehen des alten Vorurteils, das in einem italienischen Wortspiel besagt, "einer Missetat müsse immer eine Verurteilung, eine Bestrafung folgen". Der Schmerz, der sich aus einer Bestrafung ergibt, sei so etwas wie eine "reinwaschende, erlösende Medizin"; nicht so sehr und nicht nur für den Gesetzesbrecher, sondern auch, oder vor allem, für uns alle. Dies ist die "Galgenkultur", von der wir uns befreien müssen.

15. Es ist deshalb nötig, neu zu überdenken, wie wir die "kriminelle Frage" konfrontieren können, indem wir eine Politik der öffentlichen Sicherheit und der Delinquenz entwerfen, welche selbst das Wort "Strafe" zu vermeiden wüsste, weil es nur an Schmerz und Leid erinnert. Hingegen sollten Begriffe verwendet werden, die wir in unserem täglichen Leben für Rechte und Pflichten verwenden. Mehr als 90 % aller augenblicklich Inhaftierten könnten im offenen Vollzug wesentlich besser Verantwortung gelehrt und anders überwacht werden durch pädagogische und unterstützende Begleitung, mit arbeits- und berufsfördernden Massnahmen, wirtschaftlichen Anreizen und Täter-Opfer Ausgleichsbemühungen.

16. Selbst wenn dies zum Nachteil für Unternehmer und dem Personal sein sollte, die allesamt Teil einer auf Eigeninteressen bedachten Gefängniskultur sind, so ist klar, dass die Gefängnisse geschlossen werden müssen, um Platz für eine Einrichtung zu machen, die effektiv auch die Rechte von Tätern respektieren kann, die schwerste Verbrechen begangen haben. Es ist realistisch anzunehmen, dass auch künftig die Notwendigkeit bestehen wird, einzelne Straftäter in Haft zu nehmen. Aber dies würden sehr, sehr wenige sein, vielleicht ein Prozent aller augenblicklich einsitzenden Häftlinge, die die jetzige Gefängnisverwaltung als wirklich gefährlich einstuft.

17. Die Antwort auf die Delinquenz können nur erzieherische Massnahmen sein, die auf das Erlernen bewusster Freiheit durch deren Praktizieren in der Freiheit hinzielen. Das müsste zumindest die Regel sein. Nochmals: In den wenigen Fällen, in denen dies nicht sofort möglich wäre, sollten ausnahmsweise Inhaftierungen vorgesehen sein, etwa in Fällen von lebensbedrohlicher Kriminalität, aber zu genauen Bedingungen:
a) Der Verlust der Freiheit muss sich in innerhalb von Strukturen abspielen, die immer und in allen Fällen die Würde der Person und deren Rechte garantieren. Die dafür geeigneten Einrichtungen können nicht die Gefängnisse sein, die wir heute kennen. Diese wurden geplant für Leid und Bestrafung und nicht, um soziale Reintegration zu erreichen. Wir stellen uns etwas anderes vor, anders in der Konzeption der Bauten und der Aufteilung der Bereiche, anders in der Berufsauffassung derjenigen, die für die Betreuung, den Dialog und die Hilfe vorgesehen sind.
b) Die Aufenthaltszeiten in diesen gesonderten Einrichtungen müssten auf ein Minimum beschränkt werden und enden, wenn der Häftling reelles Interesse an den sozialen Wiedereingliederungsprogrammen im offenen Vollzug zeigt.

18. Um die Kultur von Strafe und Gefängnis zu überwinden und die Personen, die das Gesetz gebrochen haben, wieder in die Legalität und das Beachten der Regeln zurückzuführen, ist es absolut notwendig, dass die Regeln auch die Inhaftierten respektieren. Wir können von diesen Menschen nicht Dinge in einer unangemessenen Weise verlangen, selbst wenn diese richtig sind.

19. Gemäss Verfügbarkeit und vorhandenen Mitteln muss das "Mediationsinstitut" ein permanenter Teil der Strafjustiz werden, um in den verschiedenen Phasen des richterlichen und vollziehenden Ablaufs eingebunden zu sein.

20. Die Antwort auf Kriminalität durch in der Freiheit erfolgenden Eingliederungsmassnahmen muss alle sozial gesinnten Menschen des Landes mit einbeziehen und kann nicht allein den Experten überlassen werden.


Livio Ferrari
Massimo Pavarini


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